Vorsorgeprinzip
In der EU wird das Vorsorgeprinzip in Bezug auf HF-EMF ausschließlich mit Grenzwerten angewendet, die die Bevölkerung vor Überhitzung schützen. Was HF-EMF darüber hinaus verursachen, wird völlig außer Acht gelassen. Studien zeigen schädliche Wirkungen bereits weit unterhalb der in Europa geltenden Grenzwerte.
In den europäischen Verträgen ist ausdrücklich festgelegt, dass im Bereich der EU-Umweltpolitik das Vorsorgeprinzip gilt (Artikel 191 Abs. 2 TFEU, in Deutsch: Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union).
Auch in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) ist anerkannt, dass es über das Umweltrecht hinaus ein allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts ist, der insbesondere im Bereich des Gesundheitsschutzes gilt. *1
Das Vorsorgeprinzip beruht auf dem Gedanken, dass bei Ungewissheit über das Vorhandensein oder das Ausmaß von Risiken Schutzmaßnahmen ergriffen werden können, ohne abzuwarten, bis das Vorhandensein und die Schwere dieser Risiken vollständig nachgewiesen sind. *2
Das Vorsorgeprinzip ist im EU-Recht und im internationalen Recht verankert. Nach Art. 191 Abs. 2 Satz 1 TFEU (in Deutsch: Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union) beruht die Umweltpolitik der EU auf dem Vorsorgeprinzip und dem Grundsatz des vorbeugenden Handelns. Auch neue technische Entwicklungen unterliegen dem Vorsorgeprinzip.
Das Vorsorgeprinzip spielt auch in vielen Entscheidungen des EuGH eine wichtige Rolle, wofür im Folgenden einige ausgewählte Fallbeispiele aufgeführt werden.
– Hat eine Behörde einen Plan oder ein Projekt zu genehmigen und besteht Ungewissheit darüber, ob der Plan oder das Projekt nachteilige Auswirkungen auf ein Habitat-Schutzgebiet haben wird, verpflichtet der EuGH die Behörde zur Anwendung des Vorsorgeprinzips nach Art. 6 Abs. 3 S. 2 der Habitat-Richtlinie 92/43 EWG anzuwenden und die durch den Plan oder das Projekt verursachte Beeinträchtigung der Schutzgebiete wirksam zu verhindern. *3
– Bei der Genehmigung von Projekten, wie z. B. dem Bau eines Kraftwerkes, hat die Genehmigungsbehörde im Rahmen der FFH-Verträglichkeitsprüfung auch das Vorsorgeprinzip zu berücksichtigen, d. h. die Schutzmaßnahmen, mit denen unmittelbar hervorgerufene schädliche Wirkungen verhindert oder vermindert werden sollen, um sicherzustellen, dass das Projekt das Schutzgebiet nicht beeinträchtigt. *4
– Gleiches gilt, soweit eine Entscheidung über Ausnahmen nach Art. 16 Abs. 1 Habitat-Richtlinie 92/43 EWG zu entscheiden ist. Ergibt die Prüfung der besten verfügbaren wissenschaftlichen Daten, dass es unsicher ist, ob der günstige Erhaltungszustand einer Population einer vom Aussterben bedrohten Art trotz der Ausnahmeregelung aufrechterhalten oder wiederhergestellt werden kann, sind die Mitgliedstaaten nach dem in Art. 191 Abs. 2 TFEU (in Deutsch: Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union) verankerten Vorsorgeprinzip verpflichtet, von dem Erlass oder der Durchführung einer solchen Ausnahmeverordnung abzusehen. *5
– Auch bei der Prüfung von Plänen und Programmen besteht die Verpflichtung zur Durchführung einer Verträglichkeitsprüfung, wenn aufgrund objektiver Umstände nicht ausgeschlossen werden kann, dass der betreffende Plan oder das Projekt erhebliche nachteilige Auswirkungen auf das Schutzgebiet haben wird. *6
– In einem Vorabentscheidungsverfahren zur Gültigkeit der Verordnung (EG) Nr. 1107/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Oktober 2009 über das Inverkehrbringen von Pflanzenschutzmitteln und zur Aufhebung der Richtlinien 79/117/EWG und 91/414/EWG hat der EuGH *7 festgestellt, dass bei Ungewissheit über das Vorhandensein oder das Ausmaß von Risiken für die menschliche Gesundheit Schutzmaßnahmen ergriffen werden können, ohne dass das Vorhandensein und die Schwere dieser Risiken vollständig nachgewiesen werden müssen. *8
Aus dieser Rechtsprechung folgt, dass, wenn ein bestimmtes Risiko für 5G auf der Grundlage wissenschaftlicher Daten hinreichend belegt erscheint, was angesichts der Fülle kritischer wissenschaftlicher Berichte der Fall ist, zumindest Vorsichtsmaßnahmen ergriffen werden können. Das Vorsorgeprinzip ist letztlich eine besondere Ausprägung des Verhältnismäßigkeitsprinzips. Danach müssen die von der Wissenschaft aufgezeigten Risiken gegen die konkreten Vorteile, die auch mit 5G verbunden sind, abgewogen werden. *9 Je schwerwiegender die gesundheitlichen Folgen für Teile der Bevölkerung sind, desto stärker sind die Beschränkungen für die Einführung dieser neuen Technologie.
Angesichts des Mangels an wissenschaftlichen Erkenntnissen über die möglichen Folgen der Mobilfunkstrahlung gibt das Vorsorgeprinzip wichtige Hinweise darauf, welche Voraussetzungen vor der Einführung einer neuen Technologie erfüllt sein müssen.
Studien zeigen, dass eine unmittelbare Anwendung des Vorsorgeprinzips vor dem Einsatz von 5G dringend erforderlich ist. Basierend auf dem Rechtsgutachten zu 5G von Rechtsanwalt Christian F. Jensen, das zu dem Schluss kommt, dass:
1.2.2.1.1. Subjektive Schlussfolgerung (S. 10)
"Es ist wissenschaftlich eindeutig belegt, dass hochfrequente elektromagnetische Strahlung, auch unterhalb der in Dänemark verwendeten Grenzwerte, vgl. Punkt 2.1, DNA-Schäden bei Mensch und Tier verursacht. Panagopoulos (2019) dokumentiert, dass nicht nur die Stärke der Strahlung für die zu erwartenden Schäden von Bedeutung ist. Weiterhin wird dokumentiert, dass die Erkenntnisse aufgrund der Gemeinsamkeiten zwischen den Technologien auch auf 5G übertragbar sind."
1.2.2.5. Fachliche Schlussfolgerung (S. 24)
"Es scheint eindeutig und wissenschaftlich gut dokumentiert, dass die Exposition gegenüber hochfrequenter elektromagnetischer Strahlung (auch unterhalb der derzeit in Dänemark geltenden Grenzwerte, vgl. Punkt 2.1) krebserregend sein kann und insofern ein Gesundheitsrisiko für den Menschen darstellt, das sich als lebensbedrohlich erweisen könnte.
Hinzu kommt die von Pall 2018 zusammengefasste wissenschaftliche Dokumentation einer Reihe weiterer Schadensarten, u. a. verminderte Fruchtbarkeit, Spontanaborte, neurologische/neuropsychiatrische Effekte etc.
Darüber hinaus muss festgestellt werden, dass Kinder besonders gefährdet sind und dass mehrere Studien auf einen möglichen Zusammenhang zwischen der Exposition gegenüber hochfrequenter elektromagnetischer Strahlung und Verhaltensstörungen, Autismus, verminderter Wahrnehmung usw. hinweisen."
1.2.3.1.1. Subjektive Schlussfolgerung. (S. 30)
"Wie bei den gesundheitlichen Schäden und deren Risiko für den Menschen scheint es wissenschaftlich sehr gut dokumentiert zu sein, dass hochfrequente elektromagnetische Strahlung, einschließlich derjenigen, die innerhalb der Richtlinien der (dänischen) Behörden bleibt, für die Gesundheit von Vögeln und (in extenso) deren Lebensraum schädlich ist bzw. sein kann. Vögel haben eine besondere Eigenschaft, nämlich ihre Fähigkeit, sich zu orientieren, die teilweise auf einer Wechselwirkung mit dem natürlichen Magnetfeld der Erde beruht. Die Auswirkung hochfrequenter elektromagnetischer Strahlung auf die biologisch bedingte Orientierungsfähigkeit von Vögeln kann zur Ausrottung einer Art führen, auch in besonders geschützten Lebensräumen. Im Zusammenhang mit diesem Thema muss jedoch hervorgehoben werden, dass dies derzeit nicht mit den 5G-Frequenzen usw. in Zusammenhang zu stehen scheint, obwohl dies der Fall sein könnte. Es scheint, dass derzeit nur Studien zu diesem Thema zeigen, dass der biologisch bedingte Orientierungssinn von Vögeln durch hochfrequente elektromagnetische Strahlung negativ beeinflusst wird."
1.2.3.2.1 Schlussfolgerung zum Thema. (p. 37)
"Es scheint wissenschaftlich gut dokumentiert zu sein, dass hochfrequente elektromagnetische Strahlung, auch innerhalb der von den (dänischen) Behörden festgelegten Grenzwerte, für Insekten gesundheitsschädlich ist bzw. sein kann.
Hinzu kommt die besondere Bedingung, dass auch die Orientierungsfähigkeit von Insekten zum Teil auf der Wechselwirkung mit natürlich vorkommenden Feldern z.B. in den zu bestäubenden Blüten beruht. Die Wirkung hochfrequenter elektromagnetischer Strahlung auf die biologisch bedingte Orientierungsfähigkeit kann für die Arterhaltung verheerend sein.
Auch das Verschwinden von Insekten aus einem Gebiet kann für die Überlebensfähigkeit von insektenfressenden Vögeln von entscheidender Bedeutung sein."
1.2.4.1. Schlussfolgerung zum Thema. (p. 38)
"Es scheint wissenschaftlich gut dokumentiert zu sein, dass hochfrequente elektromagnetische Strahlung, auch wenn sie innerhalb der von den (dänischen) Behörden festgelegten Grenzwerte liegt, für Pflanzen schädlich ist bzw. sein kann. Hinzu kommt, dass das Verschwinden von Pflanzen aus einem Gebiet von entscheidender Bedeutung für das Überleben von Vögeln und Insekten als Arten sein kann."
1.3. Allgemeine Schlussfolgerung zum Thema.(S. 39)
"Ich bin der Überzeugung, dass das oben analysierte wissenschaftliche Forschungsmaterial einen eindeutigen und gewichtigen Kausalzusammenhang zwischen der Exposition von Menschen und Tieren durch hochfrequente elektromagnetische Strahlung einerseits und einer Reihe von schädigenden Wirkungen sowie möglichen schädigenden Wirkungen auf beide Gruppen, einschließlich lebensbedrohlicher, andererseits dokumentiert. Darüber hinaus gibt es einen gut belegten Kausalzusammenhang, was die Schädigung von Pflanzen betrifft. Dies gilt auch unterhalb der derzeit festgelegten Grenzwerte, vgl. auch Punkt 2.1."
2.2.1.1.1. Sachliche Schlussfolgerung. (p. 46)
"Vor dem Hintergrund der wissenschaftlichen Ergebnisse in Punkt 1.2. verbleibt nach meiner Einschätzung kein vernünftiger Zweifel, dass es sich bei der 5G-Anlage um eine industrielle Tätigkeit handelt, von der eine Gefahr für den Menschen ausgeht. Solange die derzeitigen Grenzwerte (wie von der dänischen Gesundheitsbehörde bekannt gegeben, vgl. Punkt 2.1 oben) in Gebrauch sind, muss ganz klar mit lebensbedrohlichen Gesundheitszuständen durch hochfrequente elektromagnetische Strahlung bei der Aktivierung des 5G-Systems gerechnet werden, und dies würde gegen die positiven Verpflichtungen des dänischen Staates nach ECHR Art. 2 verstoßen. 2. Da davon auszugehen ist, dass das Risiko dem dänischen Staat bekannt ist, ist es auch offensichtlich, dass er spätestens beim Auftreten der lebensbedrohlichen Gesundheitszustände in Bezug auf das 5G-System haftbar gemacht werden könnte."
3. Schlussfolgerung und Schlussbemerkungen. (p. 64)
"Dieses Rechtsgutachten kommt zu dem Schluss, dass der Aufbau und die Inbetriebnahme eines 5G-Netzes, wie es derzeit beschrieben wird, gegen geltendes Menschen- und Umweltrecht verstoßen würde, das in der Europäischen Menschenrechtskonvention, der UN-Kinderrechtskonvention, den EU-Verordnungen sowie den Berner und Bonner Konventionen verankert ist."
Deutsche Analyse in Springer Nature Schweiz AG von Hans-Jürgen Müggenborg: Das Vorsorgeprinzip beim Ausbau der 5G
1 EuGH, Urt. v. 5. Mai 1998, Rs. C-180/96, ECLI:EU:C:1998:192, Vereinigtes Königreich/Kommission, para. 99.
2 Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) , Urteil v. C-77/09, ECLI:EU:C:2003:431, Monsanto Agricoltura Italie u.a., Rn. 111; EuGH, Urt. v. 22. Dezember 2010, Rs. C-77/09, ECLI:EU:C:2010:803, Gowan International Trade and Services, Rn. 73.
3 EuGH, Urteil vom 11.04.2013 - C-258/11, NVwZ-RR 2013, 505 = NuR 2013, 343 = BeckRS 2013, 80740; EuGH, Urteil vom 15.05.2014 - C-521/12, NVwZ 2014, 931 = NuR 2014, 487 = ZUR 2014, 418 = BeckRS 2014, 80961 (Rn. 26 - 28).
4 EuGH, Urteil vom 26.04.2017 - C-142/16, NuR 2017, 393 = UPR 2017, 300 = ZUR 2017, 414 = DVBl. 2017, 838 mit Anmerkung Stüer = BeckRS 2017, 107776 - Kraftwerk Moorburg (Rn. 34 und 40).
5 EuGH, Urteil vom 10.10.2019 - C 674/17, NVwZ 20219, 1827 = DÖV 2020, 33 = NuR 2019, 756 = ZUR 2020, 54 = BeckRS 2019, 23630 (Rn. 66).
6 EuGH, Urteil vom 07.09.2004 - C-127/02, Slg. I 2004, 7449 = EuZW 2004, 730 = BeckRS 2004, 75716; EuGH, Urteil vom 17.04.2018 - C- 441/17, NVwZ 2018, 1043 = NuR 2018, 327 = ZUR 2018, 349 = BeckRS 2018, 5422.
7 OJ 2009 Nr. L 309, S: 1.
8 EuGH, Urteil vom 01.10.2019 - C-616/17, NVwZ-RR 2019, 1038 = BeckRS 2019, 22830 (Rn. 43).
7 OJ 2009 Nr. L 309, S: 1.